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AUSGABE: April 2004


Rubrik: STUFF

REPORTAGE: "Schade, dass Hitler nicht noch mehr umgebracht hat"

Rassismus, Nationalsozialismus und Ressentiments – Ein unglaublicher Erfahrungsbericht aus Graz, das einst als Menschenrechtsstadt ausgezeichnet worden ist.


Bei der Heimfahrt vom Hauptplatz Richtung Arnold-Schwarzenegger Stadion (dem einzigen Stadion in Graz - nach der konservativen Einstellung des Gouvernators hat es jedoch heftige Debatten gegeben und man wollte das Stadion schon umbenennen) mit der Starßenbahnlinie vier fiel meine Platzwahl zufälligerweise auf den für ältere und körperlich behinderte Menschen gestalteten Wagon der Straßenbahn. Ich versuchte es mir auf einem der erhobenen Einzelsitze in einer Zeitung zu schmökernd möglichst gemütlich zu machen, während langsam der Tonfall eines Gesprächs zweier Damen älteren Aussehens allmählich schriller wurde.

Bald schon war es einfach nicht mehr möglich, die dröhnenden Wortfetzen der vorderen Passagiere zu ignorieren, sodass sich Gesprächsfetzen in meinem Ohr verfingen. Als schließlich die Rede auf schmarotzende Türken und in hohe Ämter drängende Juden fiel, wurde mein Bewusstsein hellhörig.

Nur mehr oberflächlich an dem Artikel der in meinen Händen ruhenden Postille interessiert, begannen Assoziationen und Gedanken einander in meinem Kopf ihr Unwesen zu treiben. "Bald werden wir gar nichts mehr zu sagen haben", fand vorerst die Anklage über einwandernde Ausländer, die zunehmend das Parlament infiltrierten und die heimische Bevölkerung ins Abseits drängten, einen Höhepunkt.

"Dann wollen sie sogar noch eine Moschee bauen.", erwiderte die Gesprächspartnerin, ein im Gegensatz zu dem anfangs sprechenden mit Kopftuch bedeckten und von Erfahrung sowie langen Lebensjahren zeugenden Falten übersätem Gesicht recht jung wirkendes Antlitz. "Als wenn wir Christen Kirchen bauen wollten.", drang es aus dem Munde des Gegenübers.

Wie ein triefender, hoch ansteckender Bazillus schien sich nun auch ein älterer Herr mit schneeweißem Haar mit der allgemeinen Ausdruckslust intoleranter und ausländerfeindlicher Meinungen infiziert zu haben. Schmerzliche Vorurteile und bittere Ressentiments wechselten einander ab - schließlich beteiligte sich auch noch eine auf dem erhobenen Sitzbereich befindliche Dame mittleren Alters an dem Klageruf durch einen nicht überhörbaren Zwischenruf.

In mir steigerte sich schwerfällig eine undefinierbare Wut vor dem populistischen Wissensdefizit dieser Menschen, mit dem mich der Zufall zu jenem Zeitpunkt gerade zusammengeführt hatte wie auch meine Unakzeptanz einer solch engstirnigen Weltanschauung. Meine inneren Werte wurden durch eine plötzlich real gewordene Wirklichkeit nationalistisch geprägter Denkmuster geschleudert - ich fühlte mich in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück versetzt.

Schließlich wollten die jüngere Gesprächspartnerin und der ältere Mann gerade durch die sich öffnende Straßenbahntür ins Freie treten, als ein Satz des Herrn meine innere Gefühlswelt unkontrolliert zum Ausbruch brachte: "Schade,", meinte er in vollem Ernst und mit einem erkennbaren Bedauern in der Stimme, "dass Hitler nicht noch mehr umgebracht hat!".

Aus meinem Munde ertönten Antisemitismus- und Rassismusvorwürfe, vor denen die Aussteigenden schnell zu flüchten versuchten. "Haben wir denn aus dem Holocaust gar nichts gelernt?", donnerte meine erregte Stimme durch den Wagon und die alte Frau mit Kopftuch verstummte reglos - setzte einen Blick auf, als sei sie nicht mehr unter den Personen in dieser Straßenbahn, sondern in einer anderen Sphäre.

"Du darfst das nicht so ernst nehmen.", redete plötzlich der vor mir stehende Mann - Lehreraussehen, Aktenkoffer in der Hand, Brille - auf mich beruhigend ein. "Das ist schon schlimm", entgegnete gleich darauf eine ebenfalls stehende Frau mit Einkaufskorb. "Stellen Sie sich vor, wir wären weitergefahren,", sagte sie, "wie viele Menschen hätten sich noch an diesem Gespräch beteiligt.".

Für mich jedenfalls ist eine kleine Welt zusammengebrochen - nämlich die Vorstellung, dass wir aus den Verbrechen des Nazi-Regimes unsere Lehren gezogen hätten. Österreich - ein aufgeklärtes Land, welch eine Illusion. Und das betrifft nicht nur ältere Leute, denen man eine sture Meinung noch aufgrund ihres Alters zubilligen mag, oder populistischen Stimmenfängern aus Kärnten - jüdische Verschwörungstheorien, abgrundtiefer Hass vor Ausländern - ich kenne Menschen, welche sich noch immer zu so einer Ideologie und Weltanschauung bekennen.

Mir bleibt nur die Hoffnung, dass diese nazistische Gefahr im Aufkeimen bereits erstickt - solange wir jedoch in Situationen wie diesen unsere Meinung für uns behalten und den Radikalisten das Wort überlassen, nähert sich ein zweiter Holocaust mit rasender Geschwindigkeit der Gegenwart.

Gastartikel von unserem Partnermagazin "net-thinkers" www.net-thinkers.de

Autor: kirschi
Erstellt am: 2004-03-21