!MARCS young electronic magazine
AUSGABE: Mai 2002


Rubrik: STUFF

INTERVIEW: Freiheit auf der Strasse Deutschlands

"Manchmal denke ich, frei zu sein. Dann holt mich jedoch das Leben wieder ein und erschlägt meine Träume..."


"Freiheit", ein Thema, das uns alle beschäftigt. Es gibt jedoch Menschen, für die dieses Thema eine ganz besondere Bedeutung hat. Oft haben wir in unserem !MARCS schon über diese Menschen geschrieben und sie zu Wort kommen lassen. Ich selber habe sogar einige "Freunde" unter ihnen, wenn man das überhaupt so sagen kann. Die Rede ist von so genannten "Straßenkids" in Deutschland.

Folgendes Interview habe ich zum Thema "Freiheit" in Köln aufgenommen.


Kommentar: Es ist gegen 16:00 Uhr, die Sonne scheint, und wir sitzen hier gemütlich am Rheinufer der Kölner Altstadt. Die Stimmung ist ausgelassen, viele Leute genießen die ersten Sonnenstrahlen des Jahres. So kann man es aushalten. Bei uns sitzt Pünktchen und spielt mit seiner Flasche "Alt".

!MARCS: "Rote Haare, zerfetzte Klamotten. Du nennst dich Pünktchen, lebst eigentlich mal hier mal da. Ein recht ungewöhnlicher Lebensstil für einen 17-Jährigen. Wie würdest du dich beschreiben?"


Pünktchen: "Ich bin ein Punk. Das normale Leben hat mir nicht gefallen. Ich habe dieses Leben gewählt, weil ich zuhause keinen Sinn mehr gesehen habe. Ich hatte dort viel Stress mit meinen Alten. Seit drei Jahren wohne ich nun auf Platte."


!MACRS: "Ist diese Art des Lebens nicht auch sehr anstrengend, vielleicht sogar gefährlich? Immerhin bist du noch nicht volljährig?"


Pünktchen: "Es ist nicht einfach, ein solches Leben zu leben. Am schlimmsten ist es, dass viele Leute diese Lebensart nicht akzeptieren. Kein Respekt. Man wird beschimpft, angepöbelt und behandelt wie Dreck. Ich bin nicht kriminell oder so, trotzdem habe ich stets Ärger mit den Bullen. Meine Alten haben mich nicht vermisst gemeldet, daher lässt man mich immer wieder gehen."


!MACRS: "Jeder Jugendliche wird in irgendeiner Art und Weise unterstützt, sei es durch Taschengeld oder natürlich auch durch die Hilfe der Eltern. Bist du auf Hilfe angewiesen? Wie läuft das ab?"


Pünktchen: "Ja, mir wird auch geholfen. Es ist nur schwer, jemanden zu finden, der einem hilft, ohne Hintergedanken. Ich brauche kein Mitleid, sondern Leute, die mich verstehen."


!MACRS: "Wenn du stets umherwanderst, von Stadt zu Stadt, bleiben da nicht die Freundschaften auf der Strecke? Wie sehen diese bei dir aus?"


Pünktchen: "Freundschaften, gibt es sowas überhaupt noch?"


Kommentar: Pünktchen trinkt einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche und denkt nach. Dabei schlägt er den Kopf nach hinten und schaut in den Himmel... Freundschaften, Vertrauen, Liebe sind Dinge, die in der heutigen Zeit oft hinten anstehen. Vor dem Interview haben wir mit Pünktchen über Freunde gesprochen. In diesem Punkt ist er sehr von seiner Umwelt enttäuscht worden. Diese Enttäuschung steht tief in seiner Seele geschrieben.


!MACRS: "Du beschreibst dein Leben als ein freies Leben. Was bedeutet für dich Freiheit?"


Pünktchen: "Früher dachte ich, Freiheit ist da, wo es keine Regeln gibt. Heute weiß ich, dass es ohne Regeln nicht geht. Dein Körper setzt dir Regeln: er hat Hunger, muss scheißen und so weiter. Jedoch kann man auch von anderen Leuten bestimmt werden. Ich glaube heute, dass genau an dieser Stelle die Freiheit aufhört."


!MACRS: "Freisein bedeutet für dich also, alles über dich bestimmen zu können. Ist da dann noch wirklich Platz für jemand anderen, der den Weg mit dir geht?"


Pünktchen: "Manchmal fühle ich mich wirklich alleine, fange an zu heulen und frage mich, warum ich von zuhause abgehauen bin, warum ich kiffe, rauche und diese ganze Scheiße hier mache. Die Straße... Manchmal denke ich, frei zu sein. Dann holt mich jedoch das Leben wieder ein und erschlägt meine Träume."


!MACRS: "Du sprichst von Träumen. Jeder Mensch hat diese. Wie sehen deine aus und glaubst du an sie?"


Pünktchen: "Träume... Ich träume mein ganzes Leben. Es ist schwer zu sagen. Ich würde gerne ein großes Haus haben, in dem alle meine Freunde wohnen können und in dem auch mein Hund lebt. Niemand sollte mehr traurig sein und Hunger haben. Niemand sollte dort gezwungen werden, etwas zu tun, was er nicht mag, und es gäbe auch keine Polizei!"


Kommentar: Pünktchen gerät richtig ins Schwärmen. Er hat die Gabe, wirklich zu träumen. Für kurze Zeit scheint er in einer anderen Welt zu sein, aus der er seine Signale in unser Tonband funkt...


!MACRS: "Träume beeinflussen die Zukunft, zumindest können sie das. Du bist noch jung und dir steht noch vieles offen. Was hast du vor in deinem Leben?"


Pünktchen: "Die Straße ist zwar ganz o.k., aber so kann es nicht ewig laufen. Ich will die Schule nachmachen und dann vielleicht nach Spanien auswandern. Ich liebe die Menschen dort und die warme Sonne. Ich bin noch jung und kann noch was machen, auf jeden Fall..."




Autor: spilo
Erstellt am: 2002-04-05