STUFF: Juni 2004  
















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GEDANKEN: DA STEH ICH NUN, ICH ARMER TOR ... parnass: 2004-05-30

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In diesem Jahr sind wieder jede Menge Wahlen. Dazu gehört auch der Wahlkampf mit seinen Parolen. Hier eine Betrachtung dazu aus literarischer Sicht.


Landauf landab grinsen sie uns wieder an, all die würdigen Vertreter des Volkes, die sich um reichlich dotierte Stühle in den Parlamenten bemühen. In Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen sind es die Kommunalwahlen, in Thüringen zusätzlich die Landtagswahlen und bundesweit die Europawahlen, die den Parteien einmal mehr Anlass geben, sich mit plattesten Parolen gegenseitig in möglichst schlechtes und selbst in möglichst gutes Licht zu rücken. Seis ihnen gegönnt, wenn auch die Bundesrepublikaner sich längst ermüdet kaum noch beeindrucken lassen von der großen Papierschlacht der "Großkopferten", zu denen die ehemals als "Volksvertreter" gedachten Polit-Profis längst für den gemeinen Fußbürger geworden sind.

Sieht man sich aber den Wahlkampf der Parteien etwas genauer an, dann wird man dahinter der diabolische Zauber von Blend- und Schmeichelwerk entdecken, der uns zu einer ganz "klassischen" Wahlbetrachtung in die Studierstube von Goethes "Faust" entführt ...

Der Politiker (in vollem Wahlkampfornat, bewaffnet mit den typischen Geschenken wie Kugelschreibern, Bierdeckeln und ähnlichem Tand, den stolz das Parteilogo zieret):
"Sei mir gegrüßet, lieber Landsmann hier,
Den ich sonst nie, doch zu der Wahlzeit kenne.
Lausche mit allen Sinnen mir,
Wenn ich dir meine Wahlparolen nenne.
Denn dir die Grillen zu verjagen,
Bin ich als edler Junker hier,
In rotem, goldverbrämtem Kleide,
Das Mäntelchen von starrer Seide,
Die Hahnenfeder auf dem Hut,
Mit einem langen, spitzen Degen,
Und rate nun dir, kurz und gut,
Dergleichen gleichfalls anzulegen;
Damit du, losgebunden, frei,
Erfahrest, was das Leben sei.
"

Der frustrierte Wähler (bevorzugt dargestellt in Gestalt einer alleinerziehenden Mutter, eines - ganz im Sinne von Harz IV - inzwischen sozialhilfeempfangenden langzeitarbeitslosen studierten Grundschullehrers oder eines vergeblich lehrstellensuchenden Schulabgänger aus der Region um Chemnitz):
"Was kann die Welt mir wohl gewähren?
Entbehren sollst du! sollst entbehren!
Das ist der ewige Gesang,
Der jedem an die Ohren klingt,
Den, unser ganzes Leben lang,
Uns heiser jede Stunde singt.

Und nicht die Stund allein,
D ie bisweilen zu ertragen sei,
Auch manch Politiker mags sein,
Ganz gleich auch, von welcherlei Partei."

Der Politiker:
"Dies sind die Kleinen
Von den Meinen,

Politiker, wohl wahr, auch sie,
Doch lass dir ihr Programm nicht scheinen,
Als wärs auch meine Philosophie!
Höre, wie zu Lust und Taten
Altklug sie raten!

Ich aber sag im Gegenteil,
Im Sparen liegt der Deutschen Heil."

Der frustrierte Wähler:
"Nur mit Entsetzen wach ich morgens auf,
Ich möchte bittre Tränen weinen,
Den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf
Nicht einen Wunsch erfüllen wird, nicht einen,
Der selbst die Ahnung jeder Lust
Mit eigensinnigem Krittel mindert,
Die Schöpfung meiner regen Brust
Mit tausend Lebensfratzen hindert.

Sozialhilf, Renten, Krankenkassen,
Der Staat, er will sich alles fassen,
Was mir an Geldern zugedacht.
Er will am End mir nur noch lassen,
Was ihm im kranken ewgen Prassen
Zuletzt doch keine Freude macht:
Die harte Arbeit, das schreiende Kind,
Des Alters Gebrechen, des Tages Sorgen –
Die wirklichen Aufgaben des Lebens sind
Bei Euch immer nur Aufgaben von Morgen!"

Der Politiker (leicht in die Enge getrieben):
"Hör auf, mit deinem Gram zu spielen,
Der, wie ein Geier, dir am Leben frisst;
Die schlechteste Gesellschaft lässt dich fühlen,
Dass du ein Mensch mit Menschen bist.
"

Der frustrierte Wähler:
"Ich bin ein armer Mensch, mag sein,
Doch sind es Deinesgleichen immer,
Die vorgeben, viel mehr zu sein.
Wenn ich euch hör, so gibt’s für alles Grämen
Ein leicht Rezept – ihr solltet euch was schämen!
Ihr sagt, 's sei für die Konjunktur
Und streicht behände alle Rechte,
Mir bleibt am Ende immer nur
Von allem Irdischen das schlechte.
Drum muss ich, wenn die Nacht sich niedersenkt,
Mich ängstlich auf das Lager strecken;
Auch da wird keine Rast geschenkt,
Mich werden wilde Träume schrecken:

Das Bild von Armut gehet nicht aus meinem Kopf,
die Angst vor Arbeitslosigkeit macht mich erbeben.
Was nützt es mir, wenn ihr mir armem Tropf,
Versprecht das goldne, freie Leben."

Der Politiker (zu sich):
"Mir scheint, mit meinem Wahlvolk ist
In diesem Jahr nicht gutes Kirschen essen ...
(laut:) Wenn du am Dreizehnten mein Wähler bist,
sollst Du an dem Erfolg mich messen!"

Der frustrierte Wähler:
"So wie dereinst den Schröder Gerd,
Der viele schöne Worte machte
Und doch weder an Heim noch Herd
Noch in dem Land was auf die Beine brachte."

Der Politiker:
"Ich bin keiner von den Grossen;
Doch willst du, mit mir vereint,
Deine Schritte durchs Leben nehmen,
So will ich mich gern bequemen,
Dein zu sein, auf der Stelle.
Ich bin dein Geselle,
Und mach ich dirs recht,
Bin ich dein Diener, bin dein Knecht!
"

Der frustrierte Wähler (ärgerlich):
"Doch hast du Speise, die nicht sättigt,
Hast du rotes Gold, das ohne Rast,
Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt,
Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt.
"

Der Politiker (reicht eine Wahlkampfbroschüre):
"Hier lies, was wir für deine Zukunft dir versprechen.
Es wird mit unserer Regierung
sogleich dir wohl ergehn.
Du musst dafür mit unsrem Gegner brechen
Und nur auf unsrer Seite stehn.
Dann gibt es jeden Tag nur Gaben,
Lies nur, was wir zu bieten haben.
(zu sich:) Wähl uns und dir wird Hörn und Sehn vergehn ..."

Der frustrierte Wähler:
"Auch ihr seid weiter nichts als Lüge!
Mit eurer Unbekümmertheit
Wollt ihr nur, dass ich euch mich füge,
Doch von der Wahrheit seid ihr weit.
So fluch ich allem, was die Seele
Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt,
Und sie in diese Trauerhöhle
Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!
Verflucht voraus die hohe Meinung
Womit der Geist sich selbst umfängt!
Verflucht das Blenden der Erscheinung,
Die sich an unsre Sinne drängt!
Verflucht, was uns in Träumen heuchelt
Des Ruhms, der Namensdauer Trug!
"

Der Politiker:
"So glaubt ihr uns am Ende nicht,
Dass wir was Rechts verstehen?
Und dennoch bleibt es eure Pflicht,
In uns des Staates Kraft zu sehen!"

Der frustrierte Wähler:
"Du bist am Ende was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.

Und dennoch bleibt bei allem Sorgen
Am End mir nichts als diese Lehr:
Ich muss euch wählen, heute, morgen,
Verfluch ich euch auch noch so sehr."

Der Politiker (selbstzufrieden wie immer):
"So ist es recht!
Lass nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt ...
(zu sich:) Den schlepp ich durch das wilde Leben,
Durch flache Unbedeutenheit,
Er soll mir zappeln, starren, kleben,
Und seiner Unersättlichkeit
Soll Speis und Trank vor giergen Lippen schweben;
Er wird Erquickung sich umsonst erflehn,
Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müsste doch zugrunde gehn!
"

Mephisto löst sich - in stinkenden Nebelschwaden - auf: Bis zur nächsten Wahl.

Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!

Gastartikel von unserem Partnermagazin "Parnass" www.parnass.scram.de


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