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REPORTAGE: EINE SäULE, EIN BRUNNEN, VIELE LICHTER, EINE KIRCHE mohan: 2007-12-28

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Wie kaum ein anderer Ort ist dieser Platz mit der jüngeren deutschen Geschichte verbunden. Die Rede ist hier vom Nikolaikirchhof in Leipzig.


Auf einem schlichten Schild an einem Fahrradständer steht seit 1986 "Nikolaikirche - offen für alle". Was heute jeden auf einen Besuch in die Kirche einlädt, war in den letzten Jahren der DDR vor allem eine Einladung zu den wöchentlichen montäglichen Friedensgebeten. Hier fanden sie also statt die großen Friedensdemonstrationen in Leipzig, die ich nur aus dem Fernsehen kannte und die maßgeblich zum friedlichen Umsturz im Osten beitrugen. Nun stand ich hier und ließ den Geist dieses Ortes auf mich wirken.

Eigentlich fing alles schon am 20. September 1982 an, als Pfarrer Christian Führer zum ersten Friedensgebet, damals gegen das Wettrüsten, aufrief. Je mehr es mit dem Arbeiter- und Bauernstaat zu Ende ging, desto größer waren die Teilnehmerzahlen. Pfarrer Führer erinnerte sich später: "'Nikolaikirche - offen für alle' war zu einer Wirklichkeit geworden, die uns alle überraschte."

Während am 7. Oktober 1989 beim 40. Jahrestag der DDR-Gründung Genosse Erich noch davon überzeugt war, dass "den Sozialismus weder Ochs noch Esel aufhalten", flohen seine Untertanen bereits in Scharen in den Westen und gegen Kritiker gingen Polizei und Staatssicherheit mit großer Brutalität vor. Das komplette Programm an Machtdemonstration wurde aufgefahren: Armee, Kampfgruppen mit Panzerfahrzeugen und Polizei.

Was würde nun zwei Tage später bei der Montagsdemonstration in Leipzig passieren? Gibt es chinesische Verhältnisse? Keiner wusste es so genau. Als der Tag kam, dann die Überraschung oder auch Erleichterung. Trotz massiv aufgefahrener Staatsgewalt wie zwei Tage zuvor auch, kam es nicht zur befürchteten blutigen Auflösung, auch wenn es von der Staatsspitze zunächst so geplant war.

Als nun 2000 Menschen nach dem Friedensgebet mit einer Kerze in der Hand die Nikolaikirche verließen, warteten dort schon zehntausende, ebenfalls mit einer Kerze. Da man diese aber mit der anderen Hand vor dem Auslöschen schützen musste, konnte niemand Steine werfen oder einen Knüppel in die Hand nehmen. Es war ein friedlicher Protest mit Kerzen als Zeichen der Gewaltlosigkeit.

Dies zeigte Wirkung, die massiv aufgefahrene Gewaltkulisse kam nicht zum Einsatz. Sie zog einfach ab. Die Staatsmacht wollte wohl nicht derjenige sein, von dem die Gewalt ausging. Das hätte in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild abgegeben. ZK-Mitglied Horst Sindermann sagte später einmal dazu. "Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete."

Und so wurde dieser 9. Oktober 1989 zu einem Symbol für den Niedergang der DDR, der nun nicht mehr aufzuhalten war. Manchem fällt dazu vielleicht der Ausspruch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschov ein, der am 7. Oktober während der Jubiläumsfeierlichkeiten sagte: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Ein prophetischer Ausspruch? Wer weiß.

Und nun stehe ich also an jenem Ort, an dem all dies passiert ist. Ruhig ist es heute und kalt. Die Friedensgebete finden immer noch montags statt. Anlässe gibt es ja genug, denn noch immer gibt es Gewalt und Unterdrückung. An die Montagsdemos im Herbst 1989 erinnern heute auf dem Platz eine Nachbildung der Säulen der Nikolaikirche, ein Brunnen, der so voll ist, dass ihn ein Tropfen zum Überlaufen bringt, und viele Lichter, die in den Boden eingelassen sind und nachts leuchten. Und natürlich ist da auch die Nikolaikirche selbst, die immer noch offen für alle ist.



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