STUFF: Dezember 2003  
















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KURZGESCHICHTE: LASS DICH NIE WIEDER HIER BLICKEN mohan: 2005-11-26

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Martin flog zuhause raus und sitzt jetzt auf der Straße. Es ist Winter und es ist kalt.


Da hocke ich nun auf dem Gehweg, mein Rücken lehnt an der Wand. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich wollte sie so gerne unterdrücken, aber es geht nicht. Sie laufen einfach. "Lass dich nie wieder hier blicken." Diese Worte klingen noch in meinem Kopf. Sie haben mich einfach rausgeworfen. Und nun sitze ich zitternd vor Kälte hier auf den Gehweg. Schneeflocken fallen verspielt zu Boden. Eigentlich ein schöner Anblick, der mich stets erfreut hatte. Doch jetzt, jetzt konnte auch dies mich nicht aufheitern. Alles tat so weh. Warum? Warum ist das nur passiert? Warum können Sie einfach nicht verstehn?

Bei dem Gedanken an das was da eben passiert ist, kommen wieder verstärkt Tränen. Dabei wollte ich doch stark sein, keine Schwäche zeigen, vor niemandem. Ich war immer der freundliche, gut gelanute Zeitgenosse. Wie es in meinem Inneren aussieht, geht niemand etwas an. Meine Probleme sind meine Probleme und die muss ich selber lösen. Doch nun sitze ich hier und heule. Jeder könnte sehen, dass etwas mit mir nicht in Ordung ist. Doch zum Glück ist es bereits dunkel und so kalt, dass sich keiner mehr freiwillig auf die Straße traut.

So langsam wird meine Umgebung von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Auch auf mir bleiben immer mehr Flocken liegen. Ich fange an zu frieren und ziehe meine Knie enger an meinen Körper und klemme meinen Kopf zwischen die Knie. Hätte ich doch wenigstens Mütze, Schal und Handschuhe mitgenommen, dann müsste ich jetzt nicht so erbärmlich frieren. Doch leider war ich vorhin so wütend und entäuscht, dass ich nicht an das kalte Wetter gedacht hatte. So sitze ich nun also frierend hier. Niemand kommt vorbei und nimmt von mir Notiz.

Ich blicke zu den Fenstern in den Häusern. Die Menschen dort haben es gemütlich und warm. Bis vor einer Stunde hatte ich das auch. Langsam gehen immer mehr Lichter aus. Die Menschen gehen schlafen. Ich bin auch ziemlich müde und würde gerne schalfen. Aber vor lauter Kälte zittere ich so, dass ich nicht einschlafen kann. Vielleicht sollte ich aufstehen und mir eine Hauseinfahrt, eine U-Bahn-Station oder ein verlassenes Gebäude suchen, wo es wenigstens trocken und etwas wärmer ist. Ja, das sollte ich eigentlich tun, sonst würden sie wohl morgen nur noch meinen leblosen Körper finden. Und die reiserische Boulevardpresse hätte wieder ihre Schlagezeile: "Jugendlicher auf Straße erfroren - Die neue Kälte in Deutschland"

Dabei zog ein Lächeln über meine Lippen. Eigentlich ein guter Gedanke. Ich wäre dann wenigstens noch zu etwas nutze. Die Menschen würden sich mehr um Menschen auf der Straße kümmern. Und ich hätte alle Sorgen los. Meine Eltern wären mich auch los und würden mir sicher nicht nachtrauern. Auch sonst würde mich wohl kaum jemand vermissen. Aber wollte ich mich wirklich so einfach davon stehlen. Einfach am nächsten morgen nicht mehr aufwachen, einfach tot sein. Wären dann alle meine Probleme gelöst?

Diese Gedanken ergriffen von mir Besitz und ich fasste ein wenig Mut. Also so einfach aufgeben wollte ich mich eigentlich nicht. Ich wurde zwar meist wie Luft behandelt und von den meisten Menschen ignoriert. Aber sollte ich mich wirklich von diesen Menschen abhängig machen? Sollte ich mich an Menschen orientieren, die mich wie den letzten Dreck behandeln, die mich ausstoßen? Nein. Ich bin ein Menschen und habe das Recht, so zu sein, wie ich bin. Und wenn das jemand nicht akzeptieren will, dann muss er sich ja nicht mit mir abgeben.

Und dennoch tut es weh, wenn ich daran denke, was meine Eltern mir an den Kopf geworfen haben. Ich wäre ein Perversling, ich würde ihren Namen beschmutzen. Ich sei nicht mehr ihr Sohn. Damit hatten sie mich vor die Tür gesetzt. Warum nur konnten sie mich nicht so annehmen, wie ich eben nun mal bin? Warum ist das so falsch, wie ich bin? Was ist so schlimm daran, dass ich mich nur in Jungen verlieben kann? Zählt denn nur die gesellschaftliche Norm? Das macht man nicht, das ist pfui. Ist Liebe nur dann erlaubt, wenn man seiner "gesellschaftlichen Pflicht" zur Fortpflanzung nachkommt, was ja bei zwei Jungen nicht geht?

Bevor ich mich weiter in diese Gedanken vertiefen konnte, machte sich die Kälte immer stärker bemerkbar. Wollte ich morgen nicht die Schlagzeile in der Lokalpresse sein, musste ich jetzt etwas tun. Ich kämpfte mich mühsam nach oben. Dabei fiel mir ein Zettel aus der Tasche. Hoppla, an den hatte ich mich gar nicht mehr erinnert. Auf diesem Zettel stand die Adresse einer schwulen Jugendgruppe. Ein Wink des Schicksals? Es scheint so. Es war wohl noch zu früh für mich abzutreten. Irgendwo da draussen wartete mein Leben auf mich und sicher auch ein verständnisvoller, liebenswerter Freund. Allein dafür lohnte es sich zu leben.

Also lief ich zu der auf dem Zettel stehenden Adresse. Diese war in einer umgebauten Lagerhalle. Ich öffente nach kurzem Zögern die Tür. Eine neue Welt tat sich für mich auf. Neugierig schauten mich die Geschichter einiger Jungs an. Das war doch ein guter Neuanfang. Hier würde mich keiner einfach so rauswerfen. Hier durfte ich so sein wie ich bin. "Bleib hier bei uns. Wir sind froh, dass du dich entschieden hast, zu uns zu kommen und keine Dummheiten gemacht hast." Ja ich war mittlerweile auch richtig froh. Ich fasste wieder Lebensmut. Ein neues Leben wartete auf mich und ich war bereit es zu leben.


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